Thomas Bernhards Wien (2024)

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Thomas Bernhard in einem Wiener Kaffeehaus, 1971, Foto: Otto Breicha / brandstaetter images / picturedesk.com

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Peter Stuiber, 26.5.2023

Ein „Guckerl“ in die Welt

Ob „Heldenplatz“ oder Wertheimsteinpark, Dinieren im Sacher oder billig Essen in der WÖK: Wien spielt in der Biografie und im Werk Thomas Bernhards eine zentrale Rolle. Erstmals widmet sich ein Buch diesem Thema: Der historisch-biografische Stadtführer „Thomas Bernhards Wien“ von Martin Huber und Wolfgang Straub bietet nicht nur Bernhard-Fans viel Neues.

Braucht es wirklich noch ein Buch über Thomas Bernhard? Ja, dieses schon! Denn es schließt eine Lücke in der kaum zu überblickenden Fach- und Erinnerungsliteratur zu Bernhard. Dass sich bislang noch niemand des Themas angenommen hat, ist verwunderlich. Das Leben des Dichters spielte sich ja nicht nur in Salzburg ab, wo er aufwuchs und studierte, oder am Bauernhof in Ohlsdorf, mit dem er sein Image als misanthropisch-kratziger Eremit untermauern konnte. Bernhards schriftstellerischer Werdegang ist untrennbar mit Wien verbunden, darüber hinaus sind seine Bücher und Theaterstücke voll mit – nicht nur topografischen – Verweisen auf die Stadt und ihre Geschichte.

Vorgelegt wurde die Publikation mit dem Titel „Thomas Bernhards Wien“ von Martin Huber und Wolfgang Straub. Huber ist als Bernhard-Experte und Herausgeber der mittlerweile abgeschlossenen 22-bändigen Bernhard-Werkausgabe so tief in der Materie, dass er dieses Buch gleichsam schreiben musste; als Co-Autor konnte er den Literaturwissenschaftler Wolfgang Straub gewinnen, der seit März 2023 die Abteilung Handschriften, Musikalien und Nachlässe der Wienbibliothek im Rathaus leitet. Taucht man in den neuen Bernhard-Stadtführer ein, dessen Beiträge alphabetisch nach Orten angeordnet sind (von Akademietheater bis Zwölf-Apostel-Keller), ist man sofort beeindruckt von der Akribie, mit der die Autoren selbst die kleinsten Stückchen zusammengetragen haben, um ein Bernhard`sches Wien-Kaleidoskop entstehen zu lassen. Was nach viel Arbeit und Mühe klingt (und sicher auch war, denn es wurden rund 200 Bernhard-Orte in Wien ausfindig gemacht!), liest sich zugleich überaus kurzweilig und amüsant, sodass die Vermutung naheliegt, dass Huber & Straub zumindest auch ordentlich Spaß bei der Sache hatten.

Natürlich wird man hier zunächst fündig bei den Stichworten, die Bernhard-Leser*innen erwarten: Das Kunsthistorische Museum mit dem Weißbärtigen Mann von Tintoretto (Alte Meister) ist ebenso vertreten wie die Gentzgasse als Ort des künstlerischen Abendessens in Holzfällen oder die WÖK als Treffpunkt der Billigesser in Bernhards gleichnamigem Buch (die Liste dieser klassischen Bernhard-Orte ließe sich lange fortsetzen – sie sind alle in dem Buch vertreten, darunter naturgemäß viele Kaffeehäuser!). Abgesehen von den jeweils passenden Zitaten aus dem Werk, erfährt man nicht nur historische Hintergründe zu den Orten, sondern viele biografische Hinweise, von denen einige kaum bekannt sind – nicht zuletzt, weil Bernhard seit seinen ersten Erfolgen als Schriftsteller extrem darum bemüht war, die eigene Biografie zu stilisieren: Frühe Förderer und Förderinnen? Kontakte zur Literaturszene? Sie wurden verschwiegen, um das Bild des unbeirrbaren einsamen Künstlers nicht zu gefährden.

Umso interessanter sind also Orte, die noch nicht am Bernhard-Fan-Radar waren. So findet sich z.B. ein Beitrag über das Café Raimund, in dem Hans Weigel in der Nachkriegszeit den wichtigsten literarischen Stammtisch Wiens unterhielt. Auch der junge Bernhard suchte 1951 Kontakt zu Weigel, um in dessen Jahresanthologie Stimmen der Gegenwart publiziert zu werden. 1954 klappte dies erstmals. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte damals Jeannie Ebner, die nicht nur die Stimmen der Gegenwart de facto mitherausgab (ohne namentlich genannt zu werden), sondern für Bernhard auch eine „wichtige kollegiale Ansprechpartnerin“ war, „vielleicht mehr“ (S. 54). Auf seine schwärmerischen Briefe reagierte die Literatin allerdings zurückhaltend. Die ambivalente Beziehung schlug sich später im Werk nieder: Im Untergeher (1983) taucht die Schüttelstraße als Route des Protagonisten Wertheimer auf – jene Straße also, in der Jeannie Ebner von 1952 bis 1970 wohnte. In Holzfällen verspottet der erzählende Beobachter im Ohrensessel dann eine Schriftstellerin namens Jeannie Billroth als Möchtegern-Virginia-Woolf von Wien.

Viele solcher Details sind in die lexikonähnlichen Beiträge des Bandes eingeflossen und ergeben in Summe eine Wiener Biografie des Schriftstellers, dessen literarischer Durchbruch Frost in der Wohnung seines Lebensmenschen Hedwig Stavianicek in der Obkirchergasse in Döbling geschrieben wurde, von dem etliche Theaterstücke auf Wiener Bühnen uraufgeführt wurden, der im Hotel Sacher seinen Verleger traf, in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur im Palais Wilczek las oder sich im Café Bräunerhof hinter Zeitungen versteckte.

Thomas Bernhards Wien (6)

Wie Bernhard mit Verortungen in seinen Werken umgegangen ist, veranschaulicht das Buch sehr präzise. „Konkrete Orte sind bei Bernhard niemals Beschreibungen, sie sind nicht ´anschaulich`. Aber sie sind mit Bedacht gewählt, ihr Erscheinungsbild (bei der Leserin, beim Leser) und ihre Historizität sind von Belang“, so Martin Huber und Wolfang Straub. In Bernhards Prosabänden Die Billigesser, Gehen, Holzfällen, Alte Meister und Wittgensteins Neffe und natürlich auch in seinem letzten, skandalisierten Theaterstück Heldenplatz ist Wien weit mehr als nur ein Hintergrund, sondern Schauplatz. Zugleich darf man nicht den Fehler machen, sich exakte topografische Angaben zu erwarten, wie die Autoren anhand einiger Beispiele darlegen: Die dichterische Freiheit sei auch Bernhard zugestanden, manche Adressen wurden bewusst vertauscht oder möglicherweise einfach ungenau wiedergegeben, Häuser wurden fallweise „versetzt“ oder erfunden. Augenscheinlich dabei ist, dass es vor allem die bürgerlichen Bezirke waren, die Bernhards Wien bestimmen, auch biografisch: Das entspricht weitgehend dem sozialen Status seiner Figuren, die ihre Kleidung bei Kniže am Graben kaufen und – wie der Dichter selbst – ins Ambassador essen gehen oder ein grauenhaftes Konzert im Musikverein über sich ergehen lassen.

Allerdings spielen auch weniger noble Bezirke, Gegenden oder Lokalitäten fallweise eine Rolle, ob das nun Kaisermühlen ist oder Simmering, Stammersdorf oder der Donaukanal, die Zirkusgasse oder der Floridsdorfer Spitz. Der schmutzige Franzjosefsbahnhof wird zum Fixpunkt in dem Band Gehen, dessen Textgenese interessante Einblicke in die „fortlaufende Abstraktion des Wiener Stadtraumes in Bernhards Schreibprozess“ (Huber/Straub) gibt. In einer Vorstufe des Textes ist noch ausführlich von dem günstigen Kleidungsgeschäft Zum Eisenbahner die Rede, das sich unweit des Bahnhofs befand: Die Hauptfigur Oehler hat die Gewohnheit, stundenlang in die Auslage des Geschäfts zu schauen. Ort und Motiv spielen in der Endfassung des Textes eine viel geringere Rolle. In den Billigessern taucht das Geschäft abermals auf, als Merkmal sozialer Distinktion: der Eisenbahner ist sozusagen das Kleidungspendant zur billigen Wiener Öffentlichen Küche (WÖK). Da aber die meisten Bernhard-Figuren aus oberen sozialen Schichten stammen, ist es auch kein Zufall, dass der einzige Bezirk, dem bislang kein Bernhard-Ort zugeordnet werden konnte, der Arbeiterbezirk Favoriten ist. Ob der Schriftsteller nie im Böhmischen Prater oder beim Tichy war?

Martin Huber und Wolfgang Straub betonen, dass ihr Bernhard-Wien-Band durch eine Stadt führt, die es so nicht mehr gibt: Orte, Geschäfte, Lokale sind verschwunden oder kaum mehr wiederzuerkennen, die Gesellschaft hat sich gewandelt. Der Heldenplatz-Skandal ist eine Ewigkeit her (auch wenn man angesichts der heutigen politischen Situation Bernhard als Propheten anerkennen muss!), und wer weiß noch, warum Holzfällen genau beschlagnahmt wurde? Die Autoren weisen außerdem zurecht darauf hin, dass es in Wien keine offiziellen Erinnerungsorte oder Straßennamen gibt, die an Thomas Bernhard erinnern. Das hätte ihn, der viele Jahre Wien als seinen Lebensmittelpunkt sah und am GrinzingerFriedhof begraben liegt, aber kaum gewundert: Der Künstler gilt bekanntlich im eigenen Land nichts. Mit derselben Lust, die Bernhards Österreich-Schimpftiraden auszeichnete, nahm er sich auch regelmäßig die Hauptstadt und ihre Bewohner*innen vor. „Ich sehn mich so nach Wien“, schrieb er noch als junger Autor seiner Mentorin Jeannie Ebner. Wien sei für ihn ein „Festland“. Das ist die eine Seite. Auf die andere braucht man bei Bernhard nicht lange zu warten. Als er einmal in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur zu Gast war, fragte ihn dessen Leiter Wolfgang Kraus, ob die Metropole Wien für ihn, der ja aus der „Provinz“ stamme, ein Fenster zur Welt sei.

Bernhards Antwort: „Ein Guckerl.“

Das Buch „Thomas Bernhards Wien“ von Martin Huber und Wolfgang Straub ist im korrektur verlag erschienen. 326 Seiten / 90 Abbildungen / 3 Übersichtskarten / 29 Euro. Thomas Bernhards Wien – Korrektur Verlag

Das Buch wird am 5. Juni um 18.30 in der Buchhandlung Thalia - Wien Mitte präsentiert, Burgschauspieler Martin Schwab liest ausgewählte Textpassagen. Mehr dazu hier.

Hinweis: Im Magazin gibte es nocheinen Magazin-Beitrag über Thomas Bernhards Wiener Wohnorte.

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Peter Stuiberstudierte Geschichte und Germanistik, leitet die Abteilung Publikationen und Digitales Museumim Wien Museum und ist redaktionsverantwortlich fürdas Wien Museum Magazin.

2 Kommentare Kommentare ansehen Beitrag kommentieren Kommentare hinzufügen Formular und Kommentare ein-/ausklappen

Kommentare

Peter Stuiber

Sehr geehrte Frau Wichmann, vielen Dank für den Hinweis, ist schon korrigiert! Da haben Sie natürlich absolut recht - und der Fehler ist umso absurder, weil ich für meinen Beitrag über Thomas Bernhards Wiener Wohnorte vor 2 Jahren am Grinzinger Friedhof das Grab des Dichters fotografiert habe... (https://magazin.wienmuseum.at/thomas-bernhards-wiener-wohnorte) aber so schnell passieren Verwechslungen! Vielen Dank fürs genaue Lesen! Herzliche Grüße, Peter Stuiber

Wichmann

Sehr geehrte Verfasser,
Thomas Bernhardt liegt auf dem Grinzinger (nicht Döblinger) Friedhof - er selbst hätte es wahrscheinlich witzig gefunden und gesagt: seht, so wird man vergessen!
Vielleicht ändern?
Schöne Grüße von Beate Wichmann

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